Freitag, 5. August 2011

Jean Ziegler wird zitiert.

"Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet"Menschenrechtsexperte Jean Ziegler nennt Industrienationen und Nahrungsmittelkonzerne als Verursacher der Unterernährung.
Angesichts der Hungersnot in Ostafrika schlägt Jean Ziegler, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des UNO-Menschenrechtsrats, Alarm. Agrardumping und Spekulation treiben Millionen in den Tod.
Herr Ziegler, laut Uno-Welternährungsbericht 2010 sterben täglich 37 000 Menschen am Hunger. Gibt es überhaupt genügend Nahrungsmittel für die wachsende Menschheit?
JEAN ZIEGLER: Ganz sicher! Der objektive Mangel an Nahrungsmitteln ist seit dem Beginn dieses Jahrtausends überwunden. Heute leben wir auf einem Planeten, der vor Reichtum überquillt. Niemand bestreitet die Zahlen des Welternährungsberichts 2010. Er stellt fest, dass die Landwirtschaft heute problemlos 12 Milliarden Menschen, das Doppelte der Erdbevölkerung, ernähren könnte. Gleichzeitig verhungert alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren. Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet.
Woran liegt es, dass die Nahrungsmittel nicht gerecht verteilt werden?
ZIEGLER: An erster Stelle zu nennen ist das Agrardumping der Industriestaaten. Sie haben 2010 ihre Bauern mit insgesamt 349 Milliarden Dollar Produktions- und Exportsubventionen unterstützt. Folge: Auf jedem afrikanischen Markt kann man heute Früchte, Gemüse und Geflügel aus Deutschland, Österreich, Frankreich, Spanien oder Portugal kaufen für die Hälfte - je nach Saison noch billiger - des Preises, den die entsprechenden afrikanischen Inlandprodukte kosten. Ein paar Kilometer weiter steht der afrikanische Bauer, rackert sich mit seiner Familie ab und hat nicht die geringste Chance, auf ein Existenzminimum zu kommen.
Welchen Anteil hat die Europäische Union?
ZIEGLER: Die Scheinheiligkeit der Kommissare in Brüssel ist abgrundtief. Einerseits fabrizieren sie den Hunger durch das Agrardumping, und anderseits haben sie die Frontex-Organisation, eine halb geheime Militärorganisation, aufgebaut, um die Hungerflüchtlinge an der Südgrenze Europas ins Meer zurückzuwerfen.
Welche andere Ursachen spielen eine Rolle für die Hungersnot?
ZIEGLER: Die Auslandsverschuldung der afrikanischen Staaten. Die Politik des Weltwährungsfonds IWF zerstört die Nahrungsmittelsouveränität in diesen Ländern. Denn der IWF fördert die Exportlandwirtschaft zwecks Deviseneinkünften, damit die Länder ihre Schulden bei den großen internationalen Banken bedienen können. Wo Baumwolle für den Export angebaut wird, wächst kein Maniok. Und der Hunger der Bevölkerung steigt.
Welche Rolle spielen die Spekulanten an den Nahrungsmittelbörsen?
ZIEGLER: Seit Beginn der Finanzkrise wurden über 82 000 Milliarden Dollar an Vermögenswerten vernichtet. In dieser Zeit sind die Hedgefonds der Grossbanken auf die Agrarrohstoffmärkte umgestiegen. Sie machen dort Riesenprofite auf Reis, Mais und Getreide, die mehr als 70 Prozent aller konsumierten Nahrungsmittel ausmachen. Die Grundnahrungsmittelpreise sind explodiert. Entsprechend dem Index der Weltbank sind seit 2008 die Preise für Mais um 73 Prozent gestiegen, für Getreide um 110 Prozent und für Reis um 64 Prozent.
Können Sie ein Beispiel nennen, wie die Mechanismen der Nahrungsmittel-Spekulation fubnktionieren?
ZIEGLER: Zum Beispiel liegen bei den Grossbanken in Genf Werbeprospekte für Exchange-Zertifikate für Reis auf. Pensionskassen, institutionelle Anleger und Privatleute können diese Zertifikate kaufen mit der Aussicht auf einen jährlichen Reingewinn von 30 bis 35 Prozent. Die Spekulation ist absolut mörderisch, aber total legal. So kann man Termingeschäfte machen, ohne je ein Korn Reis gesehen zu haben. Ich sage nicht, die Beteiligten sind im juristischen Sinn Verbrecher, moralisch aber schon.
Welche Rolle spielen die Argrartreibstoffe?
ZIEGLER: Bis 2010 haben die USA 140 Milliarden Liter Bioethanol durch das Verbrennen von Nahrungsmittel hergestellt. Die EU will bis 2020 zehn Prozent des Energiebedarfs mit pflanzlicher Energie decken. Agrartreibstoffe statt Benzin. 2008 haben die USA fast die Hälfte ihrer Maisernte, 138 Millionen Tonnen und hunderte Millionen Tonnen Getreide für die Herstellung von Bioethanol und Biodiesel verbrannt, um ihre Abhängigkeit von Erdölimporten zu brechen. Für eine 50 Liter-Tankfüllung eines Biosprit-Autos müssen 358 Kilo Mais verbrannt werden. Mit dieser Menge lebt ein Kind in Sambia oder Mexiko - dort ist Mais Grundnahrungsmittel - ein Jahr lang.
Welche Rolle spielen die Nahrungsmittelkonzerne im Blick auf Hungersnöte und Spekulation?
ZIEGLER: Die geballte Macht der zehn agrarmarktbeherrschenden transkontinentalen Privatgesellschaften kontrolliert nicht nur die Preisbildung, sondern auch die Produktion, die Silo-Lagerung des Getreides, Transportketten, Verarbeitung und Ladenketten umfasst. Gemäss den Regeln des so genannten freien neoliberalen Marktes ist diese kartellartige Kontrolle legal. Der Markt erlaubt diese Wirtschaftsmechanismen. Zugleich sind die Staaten gegenüber diesen Konzernen total machtlos.
Können Nahrungsmittelkonzerne wirksam kontrolliert werden?
JZIEGLER: Kaum. Sie funktionieren nach dem Prinzip der Profitmaximierung. Ich nehme als Beispiel Nestlé, den größten Nahrungsmittelkonzern der Welt. Nestlé-Chef Peter Brabeck jagt jedes Jahr den Shareholder-Value hinauf. Das heißt, er drückt den Bauern die Preise, die sie für Kaffee, Kakao und Milch erhalten, immer weiter runter. Nestlé geht weiterhin aggressiv in den Markt beispielsweise für Babynahrung, obwohl es von der Weltgesundheitsorganisation verboten wurde, Muttermilch zu verteufeln.

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