Montag, 1. Februar 2010

Redebeitrag zu neuesten Entwicklungen in der Bildungspolitik BaWü

Liebe TübingerInnen und Tübinger!
Liebe Freunde und Freundinnen der Montags-Demonstration!

Ich möchte heute nicht über die Berliner Möwenpick-Koalition und die sonstigen Lobbyisten von BMW, den Rentenkonzernen, Gazprom, Nabucco, Opel, Magna usw. sprechen. Denn das Thema der neuen Berliner Lobbyisten-Republik wäre ein abendfüllendes Programm.
Nein, ich möchte heute über einen Mann sprechen, der die neue Kompetenz der Realitätsverweigerung erfunden hat. Am Wochenende hat Helmut Rau zusammen mit Stefan Mappus rechtzeitig zur närrischen Zeit die CDU-Tour-de-Ländle zur Bildungspolitik begonnen. Zwei Millionen Euro gibt die Landesregierung für ihre Propagandaveranstaltungen aus, während gleichzeitig in vielen Schulen kranke Lehrer und schwangere Lehrerinnen aus Geldmangel nicht mehr ersetzt werden können. Aber laut Kultusminister Rau hätten Schüler in Baden-Württemberg „mehr Chancen als irgendwo in der Republik und irgendwo in Europa“. Sicher-lich haben ihm bei dieser Feststellung Oettingers Englisch-Kenntnisse vorgeschwebt.
In der Tat sind Raus Verdienste europaweit einmalig: Die Einführung des achtjährigen Gymnasiums hat zu einer enormen Erhöhung des Schulstress bei Kindern und ihren Müttern geführt, viele finden sich in ärztlicher und psychologischer Behandlung wieder. Bei der Einführung des Ganztagsunterrichts regierte das Windhundprinzip, weil das Kultusministerium keinen Plan hatte. Weil der Förderunterricht an den Schulen gestrichen wurde, müssen jetzt die Eltern einspringen, indem sie die teure Nachhilfe zahlen: 18,5 Prozent der Viertklässler gehen in Baden-Württemberg schon zur Nachhilfe - vier Prozent mehr als im Bundesdurchschnitt - damit sie überhaupt eine Chance haben und nicht auf die Hauptschule kommen. Die Zahl der Hauptschüler geht seit Jahren zurück, weil sie von den Unternehmern nicht angenommen werden. Deshalb ist Herr Rau ist die ganz neue Idee der Werkrealschulen gekommen. Diese für ihn neue Idee existiert im CDU-Kinderländle schon seit über 15 Jahren. Er hat das bloß nicht mitbekommen, weil er ja noch nie unterrichtet hat. Das Geheimnis der neuen Werkrealschulen ist: Außen steht Realschule drauf und innen ist Hauptschule drin. Denn die Schüler müssen einen Notendurchschnitt von 3,0 haben, damit sie in die 10. Klasse aufgenommen werden. Für Kinder aus sozial benachteiligten Familien und aus Migrantenfamilien wird hier ein neuer Betrug aufgebaut, denn sie werden die Verlierer dieser Schulart sein. In Wirklichkeit geht es bei den Werkrealschulen um eine Verschärfung des Leistungsdrucks und der Auslese und gleichzeitig um die Schließung von fast 900 einzügigen Hauptschulen im Land. Der Protest gegen diese willkürliche Bildungspolitik reicht mittlerweile von Eltern über 450 Grund- und Hauptschulrektoren bis zu den CDU-Bürgermeistern im Land. Denn die Schulschließungen bedeuten auch eine Verödung ganzer Landstriche.

Liebe TübingerInnen und Tübinger!
Was steckt dahinter, wenn eine Landesregierung nichts dagegen tut, dass 20 Prozent eines Schülerjahrgangs die Schule verlassen, ohne ausreichend lesen und schreiben zu können? An Berufsschulen ist der Unterrichtsausfall in den Kernfächern so groß, dass der Industrie- und Handelskammertag BaWü auf die Barrikaden geht. Der Kern ist: Die Südwest-CDU vertritt eine radikale Variante einer neoliberalen Wirtschafts- und Bildungspolitik, die allen unter dem Namen Lissabon-Strategie bekannt ist. Europa und vor allem Deutschlands Konzerne soll Exportweltmeister bleiben und die stärkste Wirtschaftsnation der Welt vor den USA werden. Deshalb interessiert sie nicht die Allgemeinbildung für die Mehrheit der Schüler, sondern nur die Elitebildung. Dafür will Mappus wie in Rottenburg im ganzen Land so genannte Kinderakademien aufbauen: Kinder kommen dann nach drei Jahren von der Grundschule auf das Gymnasium in kleine Eliteklassen mit besonderer Förderung wie in Tübingen am Uhlandgymnasium und sollen dann mit 16 oder 17 Jahren anfangen zu studieren. Dann kommen der Bologna-Prozess für die Unis und Bildungsministerin Schavan ins Spiel: Schavan stellt das Prinzip der Chancengleichheit auf den Kopf: Stipendien erhalten Studierende nicht mehr, weil sie aus sozial benachteiligten Familien kommen, sondern weil sie im Konkurrenzkampf um Noten an den Unis ihre Ellenbogen am besten missbrauchen können. Statt allen Bafög-Beziehern 10 Prozent mehr zu geben, erhalten die so genannten Leistungsstärksten 300 Euro mehr. Die CDU verschärft mit ihrer Bildungspolitik vom Kindergeld an über teure Kita-Plätze bis zur Einrichtung von Elite-Schulen und Elite-Unis die soziale Spaltung in unserem Land. Dazu dient die gefährliche Ideologie des neuen Leistungs-Darwinismus von Schavan – nur der Stärkste hat ein Recht zu essen und zu überleben.

Liebe TübingerInnen und Tübinger!
Die Bildungspolitik hat als Teil der Lissabon-Strategie noch eine zweite Seite: Sie soll die Bevölkerung und vor allem die nachwachsende Generation auf deutsche Kriege überall in der Welt vorbereiten. Dazu wird die Bundeswehr von einer Verteidigungs- zu einer weltweiten Interventionsarmee umgebaut. Dazu dient der Einsatz von Bundeswehroffizieren direkt im Unterricht. Kurz vor Weihnachten hat Kultusminister Rau ziemlich unbemerkt von der Öffentlichkeit ein so genanntes „Kooperationsabkommen“ mit dem Wehrbereichskommando IV – Süddeutschland – abgeschlossen, das die Durchführung von Unterricht durch Bundeswehroffiziere in all unseren Schularten und in der Referendarsausbildung vorsieht. Das ist die zweite Realitätsverweigerung des Kultusministers, der nicht mitbekommt, dass zwei Drittel der Deutschen gegen den weiteren Afghanistan-Einsatz sind. Raus Bundeswehroffiziere werden NICHT die deutsche Kriegspolitik in Afghanistan kritisieren und die Schüler zur Friedenspolitik auffordern. Eher werden sie zusammen mit den Schülern das „Panzerlied“ singen, das die CDU-BaWü in ihrem letzten Weihnachtsliederbuch verbreiten wollte. In diesem „Panzerlied“ von 1935, dem Jahr der Aufstellung der Panzertruppe der Nazi-Wehrmacht, heißt es: „Mit donnernden Motoren/ Geschwind wie der Blitz/ Dem Feinde entgegen/ Im Panzer geschützt/ Voraus den Kameraden/ Im Kampf steh'n wir allein/ Steh'n wir allein/ So stoßen wir tief/ In die feindlichen Reihn.“ Dieses Lied hat die CDU im letzten Jahr nur nach großem Protest aus ihrem Liederbuch gestrichen, und genauso stark muss unserer Protest gegen diese katastrophale Bildungspolitik und gegen die Militarisierung der Unterrichtsinhalte sein.
Vor zehn Tagen hat deshalb das Bildungsstreikbündnis in Freiburg eine Demonstration gegen den Zugang der Bundeswehr zu unseren Schulen durchgeführt, zu der 1.000 Teilnehmer kamen. Aber selbst auf den hauseigenen CDU-Veranstaltungen ist Kultusminister Rau nicht mehr vor Kritikern sicher. So hat eine mutige Hauptschullehrerin am letzten Wochenende in Untergruppenbach die Werkrealschule als „ausgezeichnete Mogelpackung“ angegriffen, die einzig dazu diene, „Schulen zu schließen und Geld zu sparen“. Ich meine, das müssen wir unterstützen und hinzufügen: Unsere Jugend braucht eine gute Bildung, die sich nicht auf Auslese, Elitebildung und Duckmäusertum gründen darf. Gebührenfreie und wohnortnahe Schulen müssen alle Kinder unabhängig von ihrer Religion, Nation, körperlichen oder anderen Nachteilen individuell fördern und sie zu selbstständig denkenden und politisch handelnden Bürgern machen. Deshalb gehört das dreigliedrige Schulsystem endgültig auf den Misthaufen der Geschichte. Dafür lasst uns auch gemeinsam auf der Montags-Demonstration eintreten.
Ich möchte euch deshalb herzlich einladen zur Veranstaltung mit dem Ravensburger Hauptschulrebellen Rudolf Bosch, der am Freitag auf Einladung der Gemeinderatsfraktion Bürgerfreundliche Heimat/ Die Linke nach Rottenburg kommt: 19.30 Uhr, Hotel Martinshof am Eugen-Bolz-Platz.
Herzlichen Dank für Eure Aufmerksamkeit!

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